Auf unserer Blogseite findet ihr von uns verfasste Artikel zu unterschiedlichen Themen, die die armenische Diaspora beschäftigen. Immer wieder merken wir wie wenig Wissen über die armenische Kultur oder aber auch das armenische Leben in Deutschland vorhanden ist. Durch diese Blogseite möchten wir bestimmte Themen, die uns persönlich am Herzen liegen, wieder in den Vordergrund rücken, indem wir sie für euch wissenschaftlich aufbereiten und diskutieren. Dabei lernen wir selber immer wieder dazu und sind immer offen für neue Perspektiven.

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Warum erinnern?

Ani Serobjan

„Man will von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben lässt, und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, noch höchst lebendig ist.“ (Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit)

Gestern vor 106 Jahren wurden in Konstantinopel armenische Intellektuelle und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verhaftet und später ermordet. Dieser Tag ist zum Gedenktag an den Völkermord geworden. Weltweit wird an den osmanischen Genozid erinnert, bei dem 3 Millionen Menschen, davon 1,5 Millionen Armenier, aber auch Assyrer/Aramäer und Griechen im Pontos und Kleinasien, der radikalen Vernichtung zum Opfer fielen.

Das armenische Wort „aghet“, in deutsch Katastrophe, beschreibt die traumatische Erfahrung der Überlebenden, eine Erfahrung von Zerstörung, Leid, Ohnmacht und Verlorenheit. Hungermärsche, nächtliche Überfälle, Morde, Vergewaltigungen und Jahre des Umherirrens hinterließen bei den Menschen unfassbar tiefe Narben. Ihre Erfahrungen, Erinnerungen und ihre Geschichte teilen die Armenier*innen in vor und nach der Katastrophe ein – „Yegherne aratsch, yegherne wertsch“. Der Völkermord markiert einen Bruch in der Geschichte und Identität der Armenier*innen. Die Zeit nach dem Genozid bedeutete für die Überlebenden ein Weiterleben mit schweren psychischen und physischen Verletzungen. Um das Erlebte nicht erneut durchmachen zu müssen, um von der Vergangenheit loszukommen, blieben die unsäglichen Erfahrungen und Erinnerungen zumeist unausgesprochen. Angesichts der noch immer andauernden Weigerung der türkischen Regierung, den Genozid offiziell anzuerkennen, leben die Verbrechen aber nach und die Wunden bleiben weiterhin offen. Eine Heilung kann so nicht stattfinden.

Unmittelbar nach dem Völkermord fehlte zudem jegliche Beachtung in der Öffentlichkeit. Die Überlebenden und ihre Nachfahren blieben in ihrer Ohnmacht allein. Es gab niemanden, der sie hätte hören können und wollen.  Hier in Deutschland war für die Armenier*innen ihr Schicksal sogar relativ unbekannt, obwohl das Deutsche Kaiserreich als Verbündeter der Türkei im Ersten Weltkrieg unmittelbar Zeuge der Deportationen und Massaker war. Die Militärzensur im Ersten Weltkrieg verhinderte, dass breite Kreise der deutschen Öffentlichkeit überhaupt Kenntnis von den Staatsverbrechen „fern in der Türkei“ erlangten. Wenn wir jene Gräueltaten aber nicht erinnern, laufen wir Gefahr zu wiederholen. Das hat uns der Nationalsozialismus deutlich gelehrt. „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier“ sagte einst Adolf Hitler, der ebenfalls auf die internationale Gleichgültigkeit hoffte. Erst durch die Shoah kam der Anstoß zu Menschenrechtsbewegungen. Bis 1948 waren derartige Verbrechen nicht justiziabel. Erst die Verabschiedung der Genozid-Konvention durch die Vereinten Nationen änderten diesen Zusatz der Straflosigkeit. Das Wort Genozid selbst existierte nicht, ehe Raphael Lemkins es 1943 prägte, und die UN den Genozid 1948 zu einem Menscheitsverbrechen erklärte. Das Erinnern an den osmanischen Genozid sowie an die Shoah soll daher künftigen Verbrechen vorbeugen.

Solange der Völkermord auch heute noch in der Öffentlichkeit provokativ geleugnet wird, bleibt diese Vergangenheit ein Bestandteil unserer Gegenwart, der wir unbedingt Beachtung schenken müssen. Es ist unumgänglich die Verbrechen in unser Bewusstsein zu rücken. Wie bereits Adorno wusste, muss eine Aufarbeitung stattfinden, um der Wiederholung solcher Gräueltaten entgegenzuwirken. Das bedeutet, Motive und Mechanismen, die zum Genozid geführt haben, müssen aufgearbeitet und bewusst gemacht werden. Wie zum Beispiel das Ordnungssystem vor dem Hintergrund von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit und dem daraus entstandene Motiv des Nationalismus, das genutzt wird, um Gewalt für die Gestaltung einer Nation zu legitimieren. Erinnern bedeutet demnach Lernen, Aufarbeiten und Mahnen.

Um Wiederholungen zu verhindern, sollte die Erinnerung an den Völkermord nicht nur jährlich am 24. April stattfinden, sondern grundsätzlich in der kulturellen und politischen Bildung viel stärker thematisiert werden. In den deutschen Schulen spielt der osmanische Genozid im Bildungsplan noch immer keine zentrale Rolle. Zu sehr wird ein Widerstand seitens türkischer Eltern befürchtet. Aber genau dieser befürchtete Widerstand macht deutlich, wie wichtig es ist, die jeweilige historische Verantwortung in unserer postmigrantischen Gesellschaft aufzuarbeiten.

Ebenso stärkt das Erinnern auch unser Bewusstsein für die Mängel im Rechtssystem. Wie kann es genehmigt werden, dass die Verantwortlichen des organisierten Massenmordes an zahlreichen Orten öffentlich präsent sind und als Volkshelden, als patriotische Märtyrer verehrt werden? Gedenkstätten, Erinnerungsorte und Denkmäler werden ihnen zu Ehren errichtet, sogar Einrichtungen, wie Schulen und Moscheen oder Straßen und Plätze werden nach ihnen benannt. Beispielsweise nach Mehmet Cemal Azmi Bey, der als Provinzstatthalter der Schwarzmeerprovinz Trapesunt – Türkisch Trabzon – unter anderem für die Angriffe auf pontosgriechische Dörfer und die Deportationen von Griechen ins Landesinnere verantwortlich war, wurde eine Schule in Trabzon-Arsin benannt.  Mehmet Cemal Azmis Ehrengrab befindet sich sogar hier in Berlin-Neukölln. Die Heldenverehrung der in ihrer Heimat nach dem ersten Weltkrieg gerichtlich verurteilten Genozidplaner, Organisatoren und Vollstrecker bleibt auch im heutigen Berlin unwidersprochen. Alljährlich wird auch der Hauptverantwortliche für die Vernichtung der Armenier*innen Mehmet Talat hier in Berlin verehrt. Der Kult, der ihm zu Ehren stattfindet, dient in der Türkei sogar als Vorbild.

Die Erinnerung an den osmanischen Genozid an den Armenier*innen und anderen Christen setzt nicht nur ein Signal an diejenigen, die diese Verbrechen bis heute nicht als Völkermord einstufen wollen, sondern auch an die Nachfahren der Opfer, dieses Unrecht nicht zu vergessen. Auch Adorno sah die Gefahr des Geschichtsverlusts in der jungen Generation. Die Ohnmacht der Opfer und ihre Angst in Vergessenheit zu geraten, können wir durch unser bewusstes Gedenken auflösen. Es liegt nun in unserer Verantwortung, die persönlichen Familiengeschichten und traumatischen Erinnerungen, die nun zeitlich 106 Jahre entfernt sind, zu sammeln, festzuhalten und mitzuteilen. Zugleich ermöglicht die Erinnerung auch den Nachfahren, die traumatischen Erlebnisse ihrer Angehörigen zu verarbeiten und der Trauer, die intergenerativ weitergetragen wird, den nötigen Raum zu geben. Die Gedenkstätte Tsitsernakaberd in Jerewan bietet hier einen solchen Raum, indem an alle Opfer des osmanischen Genozids gedacht wird.